Warum Europas lokale Stromnetze schnell intelligenter werden müssen
Am 28. April kam es in großen Teilen Spaniens und Portugals zu einem plötzlichen Stromausfall, der viele Fragen offenließ.
Ausgelöst wurde er durch eine Spannungsspitze, die eine Kette von Netzstörungen auslöste und automatische Abschaltsysteme in Kraftwerken aktivierte. Das Ereignis führte zu gegenseitigen Schuldzuweisungen. Als mögliche Ursachen wurden Spaniens hohe Abhängigkeit von Wind- und Solarenergie, die mittlerweile mehr als die Hälfte des Strommixes ausmachen, Fehleinschätzungen des nationalen Netzbetreibers und unzureichende Investitionen in die Netzinfrastruktur genannt.
Doch über die konkreten Auslöser hinaus weist der Vorfall auf ein grundlegenderes Problem hin: Europas Stromnetze stehen unter Druck.
Erneuerbare Energien, die Elektrifizierung von Heizung den Verkehr und die steigende Beliebtheit von Photovoltaikanlagen, sowie veränderte Verbrauchsmuster stellen neue Anforderungen an ein Stromnetz, das für diese Bedingungen nicht ausgelegt ist. Besonders betroffen ist die Niederspannungsebene, also der Bereich, in dem Haushalte, Ladestationen für Elektrofahrzeuge und Solaranlagen angeschlossen sind. Früher floss Strom nur in eine Richtung – vom Versorger zum Kunden. Heute kann ein Haushalt sowohl Verbraucher als auch Produzent sein, der Solarstrom einspeist und gleichzeitig sein Elektroauto lädt.
Gleichzeitig steigen die Spitzenlasten. Wenn beispielsweise in einer Straße mehrere Wärmepumpen gleichzeitig eingeschaltet werden, kann dies die lokalen Leitungen überlasten. Die Möglichkeiten sind begrenzt: Entweder man baut die Infrastruktur aufwendig und teuer aus oder man steuert das Bestehende intelligenter. Genau dieser zweite Weg – eine intelligentere Steuerung statt nur Ausbau – gewinnt zunehmend die Aufmerksamkeit von Regierungen und Regulierungsbehörden in Europa. Deutschland hat die Pflicht eines steuerbaren digitalisierten Niederspannungsnetzes mit dem §14a des Energiewirtschafts Gesetzes den Energievesorgungsunternehmen auferlegt.
Drei Länder im Vergleich: Europas Weg zur Digitalisierung der Stromnetze
In vielen europäischen Ländern beginnen Regierungen, klare Anforderungen an intelligentere und reaktionsfähigere Stromnetze zu stellen.
Deutschland ist dabei führend. So trat beispielsweise 2024 der sogenannte § 14a des Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG) in Kraft, der die Verteilnetzbetreibern dazu verpflichtet, Geräte wie Wärmepumpen oder Ladestationen bei Bedarf ferngesteuert herunter regulieren zu können, um das Netz zu entlasten.
Gleichzeitig gelten strengere Auflagen: Netzbetreiber dürfen den Anschluss neuer, energieintensiver Geräte nicht verweigern und müssen in die Infrastruktur investieren, um mit der steigenden Nachfrage Schritt zu halten. Sie sind zudem verpflichtet, ihre Maßnahmen transparent zu dokumentieren – inklusive Umfang und Dauer der Eingriffe.
Dieses Modell basiert auf Digitalisierung: Smart Meter und digitale Netzmodelle der Niederspannung helfen dabei, Engpässe vorherzusehen und die Lastverteilung entsprechend anzupassen. Statische Netzmodelle sind inzwischen weit verbreitet; viele Netzbetreiber entwickeln derzeit dynamische digitale Zwillinge.
Großbritannien verfolgt einen ähnlichen Ansatz: Die Regulierungsbehörde Ofgem verpflichtet die Verteilnetzbetreiber (DNOs), ihre Netze im Rahmen der RIIO-2-Preisregulierung zu modernisieren. Dazu gehören Vorgaben zur Digitalisierung, Netzzuverlässigkeit und Flexibilität. Jeder DNO muss eine Digitalisierungsstrategie und einen Aktionsplan vorlegen, der Maßnahmen wie die Einführung digitaler Zwillinge, verbesserte Datenstrategien, Echtzeiteinblicke in die Niederspannungsebene und das Lastmanagement hinter dem Zähler umfasst.
Frankreich hingegen ist ein warnendes Beispiel: Zwar wurden mit dem Linky-Smartmeter smarte Messsysteme flächendeckend eingeführt, doch politische und öffentliche Widerstände führten dazu, dass eine Drosselung des Stromverbrauchs gesetzlich untersagt wurde.
Veraltete Arbeitsweisen sprechen für die Digitalisierung
Trotz klarer Zielrichtung gibt es viele praktische Hürden. Ein zentrales Problem ist, dass die Verwaltung der Niederspannungsnetze vielerorts noch mit veralteten Methoden erfolgt – etwa mit einfachen GIS-Karten, historischen Verbrauchsdaten oder Papierdokumenten. Stromausfälle werden oft erst durch Kundenbeschwerden bemerkt.
Ein weiteres Hindernis ist die Fragmentierung der Netzdaten: Die Kabelinformationen liegen in einer Datenbank, die Wartungsprotokolle in einer anderen und die Steuerungssysteme sind nicht mit den Planungstools vernetzt. Diese fehlende Integration erschwert eine vorausschauende Planung, eine effiziente Instandhaltung und die Arbeit der Techniker vor Ort.
Ein zusätzliches und gleichzeitig dringendes Argument für die Digitalisierung ist der Fachkräftemangel: Laut Eurostat war im Jahr 2019 rund ein Drittel der Mitarbeitenden in Versorgungsunternehmen über 50 Jahre alt. In einem Arbeitsumfeld, das oft auf Erfahrungswissen basiert, steigt der Druck, Prozesse zu dokumentieren und durch verlässliche Daten zu unterstützen.
Der nächste Schritt: vom digitalen Modell zum digitalen Zwilling
Der nächste Schritt: vom digitalen Modell zum digitalen Zwilling. Dieser Transformationsdruck besteht zwar schon seit Jahren, wurde durch die Pandemie jedoch beschleunigt. Viele Netzbetreiber haben daraufhin GIS-basierte digitale Modelle ihrer Netze erstellt. Diese helfen dabei, Anlagenbestände zu standardisieren, Netzstrukturen zu visualisieren und Lastflüsse grob zu simulieren. Oft dienen sie auch als offizielle Systemgrundlage.
Aber: Statische Modelle zeigen nur einen festen Zeitpunkt. Sie verarbeiten keine Echtzeitdaten, können keine dynamischen Vorgänge simulieren und sind oft nicht mit Betriebssystemen verknüpft. Für die Planung sind sie zwar hilfreich, aber bei veralteten Daten werden Simulationen unzuverlässig.
Das Ziel ist nun die Entwicklung von lebendigen, datenbasierten digitalen Zwillingen. Diese kombinieren Sensordaten, Smart-Meter-Informationen und Zustandsdaten der Anlagen. So lassen sich Stromausfälle simulieren, der Netzausbau durch neue Solaranlagen planen und Wartungen vorausschauend einleiten.
Wie sieht das in der Praxis aus? Im Zentrum steht eine spezialisierte Plattform, die sich mit Drittsystemen wie SCADA, AMI, DNA, DMS, CIS und WAMS verbinden lässt. Sie kann Ausfälle erfassen und beheben, Kunden informieren, das Netz überwachen, Analysen und Optimierungen durchführen sowie Außendienstteams unterstützen. Diese Plattform lässt sich mit bekannten Wartungs- und Asset-Management-Systemen kombinieren.
Natürlich gibt es auch Herausforderungen: Digitale Zwillinge benötigen saubere, synchronisierte Daten aus verschiedenen Quellen – und genau daran mangelt es oft. Zudem sind Investitionen in die IT-Infrastruktur, Cybersicherheit und Mitarbeiterschulung erforderlich.
Doch eines ist klar: Je komplexer das Netz wird, desto weniger tragfähig ist ein rein reaktives Management.